Skoptimismus als neues Zukunftsdenken (Leseauszug I)
Im Herbst 2019 erschienen, ist das Buch DER SKOPTIMIST - GEDANKENSPLITTER ZUR UNFERTIGEN ZUKUNFT in der Krise aktueller denn je, weil es uns einen Weg aufzeigt, bisherige mentale Muster zu verlassen und neu denken. In unregelmäßigen Abständen veröffentliche ich kurze Auszüge aus dem Buch.
Es soll in diesem Buch um die Frage gehen, wie wir ein gutes Verhältnis zur Zukunft bekommen. Wie wir das, was auf uns zukommt, am besten bewältigen. Sollen wir grundsätzlich skeptisch sein gegenüber allem und jedem – in Zeiten von Fake News und manipulierten Facebook-Videos sicher keine schlechte Sache. Oder wollen wir uns den stets frohgelaunten Berufsoptimisten in den Unternehmen anschließen, die uns mit Tschaka-Kursen vorantreiben, damit wir bloß nicht auf die Idee kommen, uns zu fragen, ob man den Schmonzes, der da tagtäglich produziert wird, wirklich braucht. Vor kurzem wurde im Supermarkt eine „Toilet Brush Gun“ angeboten, eine zum Maschinengewehr umgebaute Klobürste. Ich habe keinen Test gemacht. Meine Vorstellungskraft reichte aber aus, mir das Badezimmer vorzustellen, nachdem man mit dem Maschinengewehr in der Kloschüssel rumhantiert hat.
Ist es richtig, grundsätzlich misstrauisch zu sein oder hilft uns nur grenzenloses Vertrauen weiter, um mit dem Rest der Menschheit langfristig zu überleben? Sollen wir einem Migranten an der Grenze aus humanitären Gründen vorbehaltlos Glauben schenken oder seine Angaben anzweifeln? Oder ist es eben letztendlich gar nicht wichtig, woher er kommt und welche Angaben er macht, weil ihm einfach geholfen werden muss? Sollen wir die Welt rational erklären, helfen uns Zahlen und Statistiken weiter oder sind „gefühlte“ Tatbestände viel wichtiger? Was zählt: Ob es in unserer Gesellschaft ungerecht zugeht oder ob es sich nur ungerecht anfühlt? Ist wichtiger, ob Mitarbeiter bei einem Workshop wirklich etwas gelernt haben oder ob sie danach einfach nur ein „gutes Gefühl“ haben, es sich „gut anfühlt“?
Sollen wir den Anfängen wehren oder erst mal abwarten, wie sich viele Dinge entwickeln? Etwa panisch eine Datenschutzgrundverordnung in die Welt setzen, die niemand versteht – oder wäre es nicht besser, an die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen zu appellieren, auf sensible Daten aufzupassen? Brauchen wir mehr Staat oder weniger? Kognitionswissenschaftler haben uns ja kürzlich erklärt, dass es „DIE“ Welt nicht gibt, dass jeder eine andere und sehr subjektive Wahrnehmung der Welt hat. Es gibt also leider kein Nachschlagewerk, in dem Sie nur das Vorwort lesen müssten, um zu begreifen, wie die „wirkliche Welt“ aussieht, quasi der Holzpfahl im Wattenmeer, an den wir uns klammern können, wenn die Flut kommt – oder wenn wir die Welt gleichzeitig für gut und schlecht, Steuern für sinnvoll und gleichzeitig zu hoch, den Partner für liebenswert, aber völlig bescheuert in einem halten. Ist die AfD das größte Unglück in der deutschen Nachkriegs-Geschichte oder rüttelt sie die etablierten Parteien endlich mal wach? Sind die Veganer eine unbedeutende schmarotzende Minderheit oder zeigen sie uns, wie die Welt gerettet werden kann?
Wenn sich 100 Menschen daran machen würden, die Realität mit Legosteinen nachzustellen, würde kein einziges Ergebnis dem anderen gleichen. Wir selber sehen die Welt ja schon unterschiedlich, je nachdem in welcher Rolle wir sie gerade erleben: Als Fahrradfahrer, als Autofahrer, als Fußgänger, als Raucher oder als Experte für dies und das. Je nach Blickwinkel, der sich ja fast minütlich verändern kann, ärgern wir uns einmal über zu wenige Radwege, danach über zu lange Rotphasen für unser Auto und schlussendlich über den rücksichtslosen Motorradfahrer, der noch bei gelb über die Ampel brettert und uns fußgängerisch fast von den Beinen holt. Wir vereinen ins uns mindestens 20 unabhängige Beobachter der Welt. Wenn wir mal ins Krankenhaus müssen zu einer urologischen Untersuchung, werden wir den Eindruck nicht los, die halbe Welt leide an Blasenschwäche, so voll ist es. Wenn wir beim Augenarzt ein halbes Jahr auf einen Termin warten müssen, wissen wir, was wir schon immer ahnten: Über die Hälfte der Weltbevölkerung muss an erhöhtem Augeninnendruck leiden. Zeigt uns jemand eine gegenteilige Statistik, wird diese nie eine Chance gegen unseren persönlichen Eindruck haben.
Überdies spielt uns die Tatsache einen Streich, dass wir über keinen einheitlichen Bildungskanon mehr verfügen, sondern uns unsere Informationen wild und zufällig aus dem Netz zusammenklauben. Stellen Sie sich mal vor, 20 Personen bekommen die Aufgabe, im Internet die Frage zu googeln: „Darf ich nach 18 Uhr noch Schafsmilch trinken, ohne meine Verdauung zu gefährden?“ Schon nach dem ersten Klick schlagen 20 Personen 20 unterschiedliche Pfade ein: Der eine googelt erst mal die Zusammensetzung von Schafsmilch, der Zweite bleibt hängen bei den Grundsätzen der Verdauung, der Dritte wählt sich ein in einen Chat, in dem gerade eine Runde die Kleiber-Diät diskutiert. Da es keine vorgegebenen „Lernpfade“ mehr gibt, haben nach spätestens vier Klicks alle 20 Personen ein vollkommen unterschiedliches Bild von der Situation, verfügen über die unterschiedlichsten Informationen und würden die Frage völlig unterschiedlich beantworten. Extrem gesagt entwickeln 3,9 Milliarden Menschen auf dieser Welt, die laut einer Umfrage des Gartner-Instituts jährlich auf Informationssuche im Internet sind, 3,9 Milliarden unterschiedliche Weltbilder. Kein einziger Informations-Status wird sich mehr mit dem des Nachbarn oder einer einzigen Person in dieser Gruppe decken. So wird Wissens-Individualisierung über die Informationsbeschaffung zum festen Markenkern der postfaktischen Welt und der Globalisierung. Den letzten Satz kann man auch einfacher fassen: „Kein Schwein schert wirklich, was du denkst“.
Ich hätte es mir auch einfach machen und einen Ratgeber schreiben können. Ratgeber stehen im Moment hoch im Kurs. Wir sind wild nach Ratgebern. Dabei verkaufen sich jene Ratgeber am besten, in denen wir lesen können, was wir sowieso schon wissen – etwa, dass man bei Husten Hustensaft nehmen oder bei Magengrimmen Fencheltee trinken soll, dass bei Kopfschmerzen keine Wadenwickel helfen und festkochende Kartoffeln noch fester kochen, wenn man die Herdplatte anmacht. Alleine mit der Frage, wie man sich richtig die Zähne putzt, hätte ich einen 300-Seiten-Ratgeber füllen können. Im Mittelpunkt hätte die Frage gestanden, wie man getrocknete Zahnpasta mit dem Hammer aus dem Becken entfernt.
Kürzlich sah ich im Buchladen einen Ratgeber zur Frage, wie ich wilde Reptilien zu Hause halte. Der Ratgeber hatte sage und schreibe 272 Seiten, was mir nachdrücklich vor Augen führte, dass die Menge dessen, was geschrieben wird, nicht immer proportional zur Bedeutung einer Angelegenheit stehen muss. Wahrscheinlich waren 200 Seiten des Ratgebers nur Erste-Hilfe-Tipps gegen Bisswunden, Vergiftungen, den Verlust von Bein oder Arm oder der Frage, wie ich mich aus dem Würgegriff einer Python befreie, wenn ich gerade am Herd stehe und Wirsingkohl koche. In der Tat kann es nie schaden, wenn man so einen Reptilien-Ratgeber vorsorglich zu Hause rumstehen hat. In unserer überfremdeten Gesellschaft weiß man nie, welche Schlange plötzlich vor der Tür steht oder liegt und sich unter dem Vorwand, ein Amazon-Paket zu liefern, Zugang zur Wohnung verschaffen will. Im Zweifel ist das Reptil mit seinem Biss schneller als der Ratgeber, den wir, wenn es ernst wird, dann doch nicht finden, obwohl wir hätten schwören können, dass wir ihn in der Schrankwand neben dem Bildband der Insel Usedom abgelegt hatten.
Ratgeber gibt es auch für Glück, Erfolg, Liebe, Gesundheit, Fitness, für Zufriedenheit, Achtsamkeit, Gefühle, Empathie, Garten, Nachhaltigkeit und die Partnerschaft. Da uns das Leben keine Gebrauchsanleitung für Glück frei Haus liefert und Glück auch nicht so leicht zu lernen ist wie Blockflöte, bringen es die Glücksberater nicht nur zu Millionen auf ihrem Konto, sondern wie Ekkehart von Hirschhausen sogar ins Fernsehen. Dabei dürfte die Einfachheit der Ratschläge nur noch durch ihre überall abgeschriebene Wiederholung in den anderen Ratgebern übertroffen werden. Ich habe sogar schon Ratgeber gelesen, in denen der Titel identisch mit der Empfehlung war. In einem Ratgeber über „Empathie“ stand zu lesen „Sei einfach mal empathisch“. Das ist wie die Empfehlung in einem Fitness-Ratgeber: „Halte dich fit“.
Doch keineswegs schicken wir dem Autor solcher unterirdischen Flachheiten sein Buch empört zurück, sondern bekritzeln wie empfohlen einen dieser gelben Selbstkleber mit dem Satz „Halte dich fit“ und kleben ihn wie im Ratgeber empfohlen an den Wandspiegel. Ich könnte Ihnen ebenso gut sagen: Wiegen Sie sich vor allem nachts um 4 Uhr, nur dann erfahren Sie ihr wahres Gewicht, oder: Heben Sie einen mit Erbsensuppe gefüllten Kochtopf mehrmals mit beiden Händen über ihren Kopf, um ihren linken Schulterstrecker zu trainieren! Ich sage Ihnen auf eben diesen Kochtopf zu: Sie würden das machen. Sie würden den Unsinn gar nicht erkennen, weil ihr Gehirn süchtig und konditioniert darauf ist, den entsprechenden Ratgeber ernst zu nehmen. Ich sage ja immer, dass uns jede Distanz zu dem fehlt, was wir tun. Das haben ja schon jene Forscher entdeckt, die Testpersonen dazu bringen konnten, anderen Leuten mithilfe von Stromstößen immer größere Qualen zuzufügen. Wenn ich einen Ratgeber schreiben würde, würde ich einen Ratgeber zur Frage schreiben, wie ich mit Ratgebern umgehe und die wichtigste Empfehlung wäre: „Kaufe dir keine Ratgeber mehr, es sei denn, du brauchst Rat“....
FORTSETZUNG FOLGT.
Klaus-Ulrich Moeller
Der Skoptimist - Gedankensplitter zur unfertigen Zukunft,
Books on Demand, Norderstedt - ISBN 978-3738623840
260 Seiten, Hardcover, 19,90.- Euro
Bestellung über moeller@top-global-speaking.net
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