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zoya1994

Postfaktisch - wie antworten die Eliten?


Ein neues Wort geistert durch die öffentliche Debatte: Post-Faktisch. Englisch: Post-Truth. Und wenn sich etwas bis ins Englische hinein vorgearbeitet hat, wird es wichtig. Der Begriff hat es schon zweimal zum zweifelhaften Ruhm als Wort des Jahres gebracht - gekürt von den Oxford Dictionaries sowie der Gsellschaft

für deutsche Sprache. Donald Trump hantiert mit dem Begriff des Post-Faktischen genauso wie Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihm spielt. Wikipedia führt den Begriff bereits und auf hunderten von Kongressen wird er - meist unreflektiert - verwendet. Was  kommt hier auf uns zu? Wird nach dem digitalen ein weiteres Zeitalter eingeleitet, das uns noch einmal weitere Verunsicherung bringt? Verlieren Tatsachen an Bedeutung, weichen sie   subjektiven Wahrnehmungen bzw. Gefühlslagen von Gruppen, ja ganzer Gesellschaften? Steht das Zeitalter der Aufklärung und Rationalität endgültig vor dem Aus und müssen wir "gefühlte" Realitäten genauso ernst nehmen wie die, die wir bisher durch Fakten glaubten definieren zu können?

Nun ist es ja wahrlich keine Errungenschaft des 21. Jahrhunderts zu wissen, dass Zahlen, Daten, Statistiken nicht alles sind; dass sie der Interpretation bedürfen, dass sie, Interessen folgend, ganz unterschiedlich ausgelegt werden können. Und, das ist nicht zu unterschätzen, wir alle leben immer schon in einer Welt der postfaktischen Wahrnehmung: Wenn viele Menschen das Gefühl haben, die Steuerlast sei zu hoch, wird ihnen keine Statistik der Welt diesen Glauben nehmen können. Eher werden sie die Statistik anzweifeln, ganz unabhängig von der Wertung, was "hoch" bedeutet. Das Gefühl, der Staat kümmere sich mehr um Flüchtlinge als um seine bisherigen hiesigen Bewohner, wird man ebensowenig wie den Eindruck, unser Bildungssystem ero-diere, durch schillernde Präsentationen über gestiegene Ausgaben in Infrastruktur, Schulen und Universitäten korrigieren können. Wir leben also seit langem in einer postfaktischen Zwischenwelt. Auch Wissenschaft, die uns viele Fakten bereitstellt, ist ja geprägt dadurch, dass der aktuelle Stand unseres Wissens nur eine Hypothese darstellt. Wird die Hypothese, etwa experimentell, widerlegt, wandeln sich vermeintliche Tatsachen schnell in postfaktisches Wissen. Was wir bis dahin geglaubt haben, stimmt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Und Kognitionswissenschaften und Neurowissenschaften überbieten sich ja seit langem im versuchten Nachweis, dass  unsere Wahrnehmung der Welt schon im allgemeinen keineswegs objektiv ist, son-dern durch dutzende Filter verzerrt wird. Das alles schlägt Wurzeln bis hinein in den privaten Bereich, in dem uns Coaches und Berater erklären, Probleme etwa mit dem Partner etwa entstünden nicht durch dessen objektive Schwächen, sondern nur durch unsere eigene, sehr subjektive Wahrnehmung. Dessen Schwäche ist nicht objektiv vorhanden, sondern nur eine subjektive Projektion, deren Ursache in uns selber liegt. Wir leben, wie gesagt, seit langem in dieser postfaktischen Zwischenwelt, vielleicht ohne es zu merken. Nicht im Begriff des Postfaktischen selber liegt daher die eigentliche Gefahr, sondern in der politischen Instrumentalisierung. In  rechtsnationalen Kreisen weltweit etwa  dient der Begriff als Abschottung von der "Realität" in dieser Welt, zur virtuellen Konstruktion eigener Wirklichkeiten und  Wahrheiten. Erst in der Welt des Postfaktischen, dem ideologischen Unterbau, gedeihen  Verschwörungstheorien, Lügenpresse-Vorwürfe und die Zerrbilder eigener Welten. Dies funktioniert um so besser, je stärker man sich in sozialen Netzwerken vor störenden Informationen  schützen kann, deren Informations-Algorythmen diese konsequent ausfiltern. Das Postfaktische ist also Kampfbegriff gegen  die alten Eliten, ist die Trutzburg, sich nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, der aggressive Treiber, der jeden demokratischen Diskurs einer freien Gesellschaft ablehnt. Und genau deshalb entwickelt der Begriff eine  so gewaltige Sprengkraft für jede Gesellschaft, die fähig bleiben will zur fairen  Auseinandersetzung über richtig und falsch, über den künftigen Gang der Dinge. Postfaktisch ist eben kein neutraler Begriff, über den man emotionslos ebenso wie über die Frage streiten kann, ob wir heutzutage  noch in der Moderne, der Post-Moderne oder etwas ganz anderem leben. Postfaktisch ist der Angriff auf eine Gesellschaft, die sich sowieso auf nichts mehr einigen kann - keine Werte mehr, keine gemeinsmane Begriffe, keine Ziele. In der postfaktischen Gesellschaft  glaubt sich jeder legitimiert, seine eigene Realität zu konstruieren,  Begriffe umzudeuten und nur das für wahr zu halten, was ihm nutzt. Denn  auch die postfaktische Argumentation, das ist ihr Widerspruch, konstruiert ja Fakten - nur eben ihre eigenen. Damit entlarvt und delegitimiert sich das Postfaktische ganz von alleine:  Es schafft keine neue  fortschrittliche Ebene des Diskurses, sondern nur ein zweite Wahrheits- und Faktenebene. Damit aber kann sie keinerlei Anspruch erheben auf "mehr" Wahrheit als die Fakten, die sie  angeblich bekämpft.


Was also ist zu tun?  Wer Interesse an einer offenen, zum Diskurs fähigen Gesellschaft hat, darf den Begriff des Postfaktischen nicht  einfach blind übernehmen. Es ist ein politischer Kampfbegriff und eben keine sozio-psychologisch überdehnte Erkenntnis, dass Fakten erst durch unsere Wahrnehmung ihren Wert erhalten. Wir leben eben nicht in der Zeit des "Post-Faktischen", sondern in einer Zeit  der "wertfreien Post-Moderne". Das ist gänzlich etwas anderes.  Auch die wertfreie Post-Moderne weist nach wie vor Rahmenbedingungen auf, die wir als Fakten akzeptieren: Dass die Welt rund ist; dass die Schwerkraft Dinge nach unten zieht; dass  Zeitungen aus Papier gemacht sind;  dass jeder Mensch sterben wird.  


Unser Konflikt besteht gerade darin, dass  wir  uns auf keine gemeinsame Bewertung von Tatsachen, kein gemeinsames Urteil mehr darüber einlassen, welche Bedeutung bestimmte Fakten haben. Wir brauchen daher, um die Zukunft gesellschaftlich friedlich zu gestalten, heute mehr denn je die Fähigkeit, aus den Fakten konsensuale Schlüsse ziehen zu können,  nicht den Irrglauben, es gäbe keine Fakten mehr.  Dieser wird die Spaltung unserer Gesellschaft nur weiter befördern, nicht diese voranbringen.

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